Dieser Aufsatz fragt nach der Rolle nicht-staatlicher Akteure in der Europäischen Gemeinschaft (EG) der 1970er Jahre. Er will dazu beitragen, die traditionelle diplomatiegeschichtliche Integrationsgeschichtsschreibung mit ihrem Fokus auf die Politik der Mitgliedsstaaten gegenüber „Europa“ zu überwinden, die gesellschaftliche Akteure kaum erfasst und analysiert. Die empirischen Beiträge über transnationale Sozialisten, Gewerkschafter, Landwirtschafts- und Umwelt-Lobbyisten in diesem Heft zeigen nachdrücklich, dass nicht-staatliche Akteure bereits in den 1970er Jahren transnational zusammenarbeiteten, ihre Organisationsformen europäisierten und zunehmend in der EG-Politik aktiv waren. Einerseits folgten die Verbände der Verlagerung von Politikfeldern auf die europäische Ebene. Andererseits – und zwar weit mehr als bisher bekannt – trugen sie selbst mit dazu bei, Themen, Umfang und Reichweite der europäischen Politik(en) zu definieren. Europäisches Regieren als governance ist in seinen Grundzügen somit bereits in den 1970er Jahren zu verorten.
Non-State Actors in European Integration in the 1970s: Towards a Polity of Transnational Contestation
Vol. 20 No. 3 (2010)
Herausgegeben von Wolfram Kaiser and Jan-Henrik Meyer
Articles
Political Networks of Socialist Parties in European Community Development Policy
Der Aufsatz untersucht die transnationalen politischen Netzwerke der europäischen sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien im Bereich der Entwicklungshilfepolitik der Europäischen Gemeinschaft zu Beginn der 1970er Jahre. Hierzu werden zunächst jene netzwerkartigen Verbindungen und Überlappungen der europäischen Sozialdemokraten / Sozialisten rekonstruiert, die sich im Rahmen des transnational institutionalisierten Netzwerkes der Sozialistischen Internationale (SI) herausbildeten. In einem zweiten Schritt werden am Beispiel der Debatte über ein regional oder global konzipiertes EG-Entwicklungshilfesystem die von den Netzwerken entwickelten Funktionen, Strategien und Aktivitäten für eine Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsfindungsprozess der EG herausgearbeitet. Zum Schluss erfolgt eine Bewertung des Einflusses der transnationalen politischen Netzwerke der europäischen sozialdemokratischen / sozialistischen Parteien auf die EG-Entwicklungshilfepolitik.
Dieser Aufsatz analysiert am Beispiel des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Rolle der Gewerkschaften bei der Etablierung der EG-Sozialpolitik in den 1970er Jahren. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme europäischer Gewerkschaftsstrukturen nach 1945 wird argumentiert, dass sich diese Rolle weder als die einer zivilgesellschaftlichen Avantgarde für eine Supranationalisierung dieses Politikfeldes noch als die eines defensiven „Bremsers“ angemessen beschreiben lässt. Es wird gezeigt, dass sich der DGB einerseits aktiv für eine supranationale Sozialpolitik einsetzte, diese aber andererseits auf eine Ergänzung und Koordinierung nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit begrenzen wollte, insbesondere im Hinblick auf redistributive Elemente der Sozialpolitik. Der Aufsatz illustriert damit, dass bei der Analyse nichtstaatlicher Akteure nicht nur auf deren Rolle als Lobbyisten in Brüssel zu achten ist, sondern auch darauf, wie solche Akteure die Reichweite supranationaler Politik definieren helfen.
Das Comité des organizations professionnelles agricoles (COPA) ist die älteste und größte Agrarlobby der heutigen Europäischen Union. Basierend auf Forschungen im Archiv von COPA und gestützt auf historisch-institutionalistische Theorien, untersucht dieser Artikel, ob und wie einige der meist kritisierten Ergebnisse der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wie die Förderung von Überproduktion auf den Einfluss nicht-staatlicher Akteure wie COPA zurückgingen. Der Aufsatz beginnt mit einer Darstellung der institutionellen Strukturen und Arbeitsweisen der COPA und beleuchtet das enge Verhältnis zwischen COPA und der europäischen Kommission. Anschließend untersucht der Artikel COPAs Bemühen, Reformvorschläge der Kommission im Milchsektor abzuwehren bzw. zu beeinflussen. Der Aufsatz zeigt, dass nicht-staatliche Akteure wie COPA eine der treibenden Kräfte hinter dem agrarpolitischen Status quo in den 1970er Jahren waren.
Dieser Aufsatz untersucht den Beitrag der Umweltorganisationen in der Frühphase der Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaft. In den frühen 1970er Jahren entsteht in den Mitgliedsstaaten parallel zur Erfindung von Umwelt als Politikfeld eine moderne Umweltbewegung. Erstaunlich rasch geht diese den Weg nach Europa. Als transnationale Grass-Roots-Initiative, aber mit Unterstützung der Europäischen Kommission wird bereits 1974 das Europäische Umweltbüro (EEB) als europäischer Dachverband etabliert, der aber lange Zeit personell unterbesetzt bleibt. Dagegen zeigt das Beispiel der Entstehung der Vogelschutzrichtlinie von 1979, dass nicht-staatliche Akteure bereits in den 1970er Jahren in der Lage waren, in transnationaler Zusammenarbeit untereinander und mit europäischen Institutionen Umweltthemen auf die europäische Agenda zu setzen, mit öffentlichem Druck und Expertise Einfluss zu nehmen, und so auf die Mitgliedsstaaten hin zu wirken, Europas Zugvögel unter europäischen Schutz zu stellen.