Lives Beyond Borders: A Social History 1880-1950
Vol. 23 No. 6 (2013)
Herausgegeben von Madeleine Herren & Isabella Löhr
Articles
Anhand des britischen Journalisten William T. Stead analysiert der Artikel grenzübergreifende Strategien der Einflussnahme auf diplomatische Praktiken vor dem Ersten Weltkrieg. Stead ist heute vor allem wegen seiner Enthüllungen sozialer und politischer Skandale im viktorianischen England bekannt. Er selbst stellte aber seit den 890er Jahren zunehmend die Lobbyarbeit für Friedensthemen und Internationalismus ins Zentrum seiner Aktivitäten. Mit lautstarken öffentlichen Aktionen versuchte der überzeugte Imperialist und Pazifist, weltweite Aufmerksamkeit auf das Problem der Friedenssicherung und Völkerverständigung zu lenken. Der Artikel schlägt vor, Steads Friedensaktivitäten im Rahmen seiner „transgressiven” Arbeitsweise zu interpretieren. Auf diese Weise wird der Blick auf Steads kontinuierliche und öffentliche Übertretung sozialer Normen gerichtet. Seine verschiedenartigen Grenzüberschreitungen werden als Strategie interpretiert, um möglichst große internationale Aufmerksamkeit auf transnationale Einflusssphären zu lenken und die staatenzentrierten, öffentlichkeitsfernen Verfahrensweisen der internationalen Beziehungen zu delegitimieren. Der Artikel rückt insbesondere Steads publizistische Aktivitäten anlässlich der beiden Haager Friedenskonferenzen 899 und 907 in den Mittelpunkt. Die Analyse der inoffiziellen Konferenzzeitung Courrier de la Conférence de la Paix wirft hierbei ein Schlaglicht nicht nur auf Versuche zivilgesellschaftlicher Einflussnahmen auf internationale Verhandlungen, sondern auch auf die Transformation einer Diplomatie, die zunehmend unter dem Druck technischer Neuerungen und öffentlicher Interessen stand.
Der Beitrag diskutiert grenzüberschreitende Aktivitäten und transnationale Biographien in der mandschurischen Stadt Harbin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die an einem Eisenbahnknoten im Nordosten Chinas entstandene Stadt Harbin entwickelte sich binnen weniger Jahre von einer russischen Kolonie zu einer von vielfältigen globalen und transkulturellen Verflechtungen geprägten kosmopolitischen Stadt. Aufgrund ihrer Attraktivität für den internationalen Handel war die boomende Stadt im „wilden“ Fernen Osten auch für Abenteurer, halbseidene Figuren und Kriminelle ein Magnet. Dabei schufen die komplexen administrativen Strukturen und rechtlichen Grauzonen einer von zahlreichen Machtwechseln gekennzeichneten internationalen Stadt vielfältige Räume für halblegale und illegale Aktivitäten aller Art. In den globalen und kosmopolitischen Räumen, die Harbin bot, konnten sich besonders solche Akteure erfolgreich bewegen, die über ein transkulturelles Know-how verfügten und in transnationalen Kontexten zu agieren verstanden. Dieser Untersuchung liegen drei Fallstudien von grenzüberschreitenden Akteuren auf der „dunklen“ Seite der Harbiner Gesellschaft zugrunde, darunter die eines Zuhälterpaars, eines Spielcasino-Betreibers sowie eines transnationalen Netzwerks von Opium-Schmugglern.
Der Aufsatz analysiert am Beispiel des neuseeländischen Völkerbundbeamten und späteren Diplomaten Joseph Vivian Wilson die Karrieremöglichkeiten, die der Völkerbund seinen Angestellten bot. Wilson strebte in den 1920er Jahren zunächst die Laufbahn eines Diplomaten an. Dieser Karriereweg war auf Grund seiner Herkunft aus einem Dominion innerhalb des Britischen Empire nur eingeschränkt möglich, weswegen er sich gegen einen Eintritt ins britische Foreign Office entschied. Der Autor argumentiert, dass der Völkerbund für Wilson eine Chance bot, um Hindernisse in seinem beruflichen Werdegang zu umgehen und seinen Aufstieg voranzutreiben. Der Völkerbund erlaubte einerseits eine quasi-diplomatische Tätigkeit und bot andererseits neue Möglichkeiten einer erfolgreichen Karriere in einem internationalen Umfeld. Die mikrohistorische Analyse von Wilsons Werdegang zeigt damit die Relevanz persönlicher Netzwerke innerhalb internationaler Sekretariate. Der Artikel schlägt vor, die Karriere von Wilson als eine freiwillig gewählte Form einer globalen Biographie einzustufen - eine Biographie, für die das Überschreiten von Grenzen nicht nur Nebenprodukt, sondern distinktes Charakteristikum ist.
Der Beitrag nimmt Personen in den Blick, die in der Zwischenkriegszeit internationalen Organisationen zugeordnet waren und Kontakte zum Sekretariat des Völkerbunds pflegten. Diese höchst heterogene Gruppe ist der methodologische Ausgangspunkt für die kritische Analyse der Figur des Fremden; sie werden als politische Eliten, international tätige Experten, Internationalisten und global agierende Illusionisten charakterisiert. Die Karriereverläufe dieser auf den ersten Blick entweder unscheinbaren oder untypischen Biographien folgten spezifischen sozialen Mustern, die allerdings nur mit einer Methodologie sichtbar werden, die eindeutige kategoriale Zuschreibungen von Zugehörigkeit und Differenzierung vermeidet. Stattdessen ermöglicht eine am methodischen und analytischen Instrumentarium des new cosmopolitanism und der transkulturellen Geschichte geschulte historische Analyse einen neuen Zugang: Das Überschreiten von sozialen, kulturellen und politischen Grenzen wird als sozial konstitutiver und regelsetzender Akt sichtbar. In dieser Lesart erscheinen die jeweils unterschiedlichen Ausprägungen und die wechselnde Bedeutung von Territorialität, Performativität und transkultureller Verflechtung als Referenzpunkte, welche die sozialen und politischen Rahmenbedingungen transgressiver Biographien im Umfeld des Völkerbunds zu verstehen erlauben.
Announcements & Reports
Rezensiert werden folgende Titel:
Dani Rodrik: The Globalisation Paradox. Why Global Markets, States and Democracy can’t coexist, Oxford: Oxford University Press 2011, 345 S.
Richard Münch: Das Regime des Freihandels. Entwicklung und Ungleichheit in der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2011, 330 S.
Hartmut Elsenhans: The Rise and Demise of the Capitalist World-System, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 217 S.
Hartmut Elsenhans: Kapitalismus global. Aufstieg – Grenzen – Risiken. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2012.
Amy Chua: World on Fire. How Exporting Free Market Democracy Breeds Ethnic Hatred and Global Instability, London: Random House, 2004, 346 S.