Zunächst führt die Einleitung kurz in die Problematik der Historisierung von Staat und Staatlichkeit ein und gibt einen Überblick über die Entwicklung der einschlägigen Historiographie. In einem zweiten Schritt werden die zentralen Analysekonzepte vorgestellt, namentlich jenes der „Transkulturalität“ und des „Staates“. Wie relevant die Frage nach transkulturellen Dimensionen von Staatlichkeit auch in theoretisch-methodischer Hinsicht ist, macht der Blick auf die Debatten um Staat/Staatlichkeit deutlich, der zugleich von der Persistenz des Mythos von der „europäischen Erfindung des Staats“ zeugt. Abschließend werden die nachfolgenden Fallstudien kurz eingeführt und einige übergreifende Linien und gemeinsame Befunde herausgestellt.
The Dimensions of Transcultural Statehood
Vol. 24 No. 5 (2014)
Herausgegeben von Christina Brauner und Antje Flüchter
Articles
Der China-Feldzug der britisch-französischen Truppen von 860 endete zwar mit einer Niederlage für China, leitete aber gleichzeitig eine neue Phase der diplomatischen Beziehungen zu den Westmächten ein. Die vorliegende Untersuchung der während des Krieges geführten politischen Verhandlungen zeigt, dass es zu Annäherungen kam, indem beide Seiten die diplomatischen Gepflogenheiten und Systeme des jeweils anderen zu erkennen trachteten und in einem transkulturellen Prozess in die Fortführung der Verhandlungen integrierten. Damit wird der traditionellen Deutung dieses Ereignisses als Meilenstein des europäischen Imperialismus eine neue Dimension hinzugefügt: Das chinesische System der Außenbeziehungen war wie das europäische sehr flexibel, und auch die „informal empires“ mussten stets neu verhandelt werden.
Der Aufsatz erprobt das Konzept der transkulturellen Staatlichkeit am Beispiel der Rechtsordnung, d. h. Rechtsprechung und Gesetzgebung. Untersucht werden ausgewählte Aspekte der französischen Rechtsprechungspraxis gegenüber indischen Akteuren in Pondicherry, der wirtschaftlichen wie administrativen Zentrale der französischen Unternehmungen in Südindien, während des 18. Jahrhunderts. Obwohl die Haltung des frühen französischen Kolonialregimes gegenüber der zivilen Gerichtsbarkeit darauf ausgerichtet war, über jede soziale Gruppe gemäß ihrer eigenen Rechtsnormen Recht zu sprechen, argumentiert diese Arbeit, dass die Situation in der Praxis weitaus uneindeutiger war. Dies gilt insbesondere für die indischen Christen, deren Existenz bereits Resultat von Kulturkontakt war und die daher nicht in die sozial-rechtlichen Kategorien passten, die durch das frühe Kolonialregime als Grundlage für die Rechtsprechung definiert worden waren. Ausgehend von einer Untersuchung verschiedener Rechtsstreitigkeiten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt der Aufsatz auf, dass die Demarkationslinien in dieser Situation der Rechtsvielfalt insbesondere in Bezug auf indische Christen viel flexibler und in höherem Maße offen für Aushandlung waren als bisher in der Forschungsliteratur angenommen. Die Prozesse brachten gerichtliche Entscheidungen hervor, die einen Kompromiss zwischen verschiedenen Rechtstraditionen darstellen. Durch diesen Kompromisscharakter standen die Urteile paradoxerweise nicht nur im Konflikt mit eben jenem Prinzip, welches die Verwaltung von Pondicherry der Rechtsprechung eigentlich zugrundelegte, sondern sie sind zugleich paradigmatisch für die Transkulturalität des in der Entstehung begriffenen französischen Kolonialstaats in Indien.
Wie alle Kolonialregime hat auch das britische Empire sein Recht und Gesetz bei der kolonialen Expansion mit sich geführt. Im kolonialen Kontext Britisch-Indiens wurde die englische „rule of law“ im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem äußerst umstrittenen Konzept. Basierend auf zeitgenössischen viktorianischen Diskussionen über die „rule of law“, ihre Ambivalenzen und Ansatzpunkte für Kritik rückt der Beitrag die erste Generation indischer Barrister, ihre berufliche Tätigkeit und ihr öffentliches Engagement in Hochverratsprozessen in den Mittelpunkt. In den „Großen Wahabiten-Prozessen“ 1864–1872 konfrontierten indische Anwälte die „rule of law“ mit ihren Paradoxa. Durch ihre Multipositionalität als offizielle Repräsentanten der britischen Krone und zugleich cultural brokers im transkulturellen Kontext stritten sie für politische Rechte und trugen zur Herausbildung von Konstitutionalismus bei.
Der Beitrag setzt sich mit interkultureller Diplomatie im westafrikanischen Dahomey zwischen dem frühen 8. und frühen 9. Jahrhundert auseinander und verfolgt eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen wird die diplomatische Praxis vor Ort, in erster Linie am Beispiel von Audienzreisen europäischer Vertreter in Dahomey, untersucht. Dabei frage ich, inwiefern sich ein transkulturelles Zeremoniell entwickelte, das sowohl europäische als auch afrikanische Elemente aufnahm und zu etwas Neuem verband. Zum anderen geht es um die (wechselseitige) Wahrnehmung und die Transformationen, die das europäische Bild Dahomeys seit dem späten 8. Jahrhundert durchlief. Anhand der immer stärkeren Verdichtung des Bildes von Dahomey als Despotie zeige ich exemplarisch auf, wie die europäische Wahrnehmung von außereuropäischen Herrschaftsformen immer stärker ‚alterisiert‘ wurde und zunehmend durch einen ‚exklusiven‘ Eurozentrismus dominiert wurde.