Multiple Futures - Africa, China, Europe
Vol. 26 No. 2 (2016)
Herausgegeben von Ulrich Bröckling, Gregor Dobler und Nicola Spakowski
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Herausgegeben von Ulrich Bröckling, Gregor Dobler und Nicola Spakowski
Die Zukunft ist ungewiss, und sie ist nicht für alle dieselbe. Das Heft untersucht in vergleichender Perspektive zeitgenössische Zukunftserwartungen, Formen des Zukunftswissens und Strategien des Zukunftsmanagements in Afrika, China und Europa. Während je eigene soziale, politische und ökonomische Gegebenheiten Unterschiede im individuellen und kollektiven Zugang zu Zukunft bedingen, bringt die Verflechtung der Welt gleichzeitig Parallelen und Konvergenzen hervor.
Das zentrale Stichwort, das Zukunftsorientierungen im gegenwärtigen Kapitalismus beschreibt, lautet „Wachstum“. Wirtschaftliches Wachstum ist eine Variable, die die Entwicklungschancen fast aller gesellschaftlichen Subsysteme – von privaten Unternehmen, dem Staat bis hin zu Haushalten und persönlichen Biographien – bestimmt. Im Zuge der Globalisierung des Kapitalismus beschränkt sich der Wachstumsimperativ längst nicht mehr auf westliche Länder, sondern ist zu einem globalen Phänomen geworden. Vorangetrieben wird der Wachstumsprozess durch unternehmerische Innovationen, und durch die Kommunikation von Innovationen in Form technologischer Visionen und „Utopien“, die die für den Markterfolg von Erfindungen nötige gesellschaftliche Resonanz vermitteln. Der Beitrag skizziert zunächst die Hauptbefunde der bekannten Studie Angus Maddisons über das langfristige historische Profil des Wachstumsprozesses. Im Anschluss daran werden sozio- ökonomische, institutionelle und kulturelle Theorien des Wachstums dargestellt und diskutiert. Die These lautet, dass die in der Soziologie immer noch einflussreichen kulturellen Wachstumstheorien dem heutigen globalen Charakter kapitalistischen Wachstums nicht gerecht werden. Der Wachstumsimperativ kann nicht aus den kulturellen Traditionen des Westens allein abgeleitet und nicht länger als etwas afrikanischen oder asiatischen Ländern durch den Westen „Aufgezwungenes“ interpretiert werden. Um ihn zu erklären, erscheint vielmehr ein globalisierungstheoretischer Ansatz sinnvoll, der das Phänomen entgrenzter Märkte in den Blick rückt.
Repräsentationen des afrikanischen Kontinents behandeln ihn zunehmend als „Zukunftskontinent“, der einen klaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung vor sich habe. Diese Welle des Optimismus folgt einer vorausgegangenen Welle des Afropessimismus. Der Aufsatz fragt, wessen Ideen und Interessen sich in solchen Diskursen niederschlagen, warum sie gerade heute so virulent werden und wessen Interessen sie dienen. Die Wachstumsrhetorik, so wird deutlich, rechtfertigt die gleichen externen Interventionen, Investitionen und Extraktionen wie die vorausgegangenen Wellen der Rhetorik. Kritische afrikanische Stimmen weisen auf die Widersprüche und Sinnentleertheit der neuen Hyperrhetorik hin und bieten damit alternative, komplexere und historisch klarer verankerte Entwürfe der zukünftigen Einbindung des Kontinents in das globale Wirtschaftsgefüge.
Der Wechsel der Partei- und Regierungsführung in China im Winter 202/3 wurde von der Erwartung begleitet, dass damit auch ein Wechsel in der Wirtschaftspolitik einhergehen würde. Insbesondere hofften viele Ökonomen, dass sich die neue Führungsriege wieder verstärkt ordnungspolitischen Reformen und einer Stärkung der Marktkräfte zuwenden würde, und sprachen entsprechend von einer „zweiten Transformation“. Im Mittelpunkt des Artikels steht die Frage, wie die konkurrierenden wirtschaftspolitischen Denkschulen in der Vergangenheit die Wirtschaftspolitik der Regierung beeinflusst und im Zusammenspiel mit der entsprechenden internationalen Agenda auf die Nachhaltigkeitspolitik der chinesischen Regierung gewirkt haben und welche Schlüsse sich daraus für die Nachhaltigkeitspolitik der neuen Führungsriege ergeben.
Bis Ende 20 werden 0 Prozent aller Chinesen über einen Internetzugang verfügen. Die Möglichkeiten für eine größer werdende Anzahl von Chinesen, online zu kommunizieren und zu konsumieren, hat eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu inspiriert, sich mit Themen wie Zensur, Überwachung und Nutzung von sozialen Medien zu beschäftigen. Ein Großteil dieser Forschung baut auf der Prämisse einer antagonistischen Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft auf. Allerdings weiß man bisher nur wenig darüber, welche Auswirkungen die staatlich geförderten und internetbasierten Kommunikationskanäle zwischen Regierungsbeamten und chinesischen Bürgern auf die Transformation der autoritären Einparteienherrschaft in China haben. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dieser Frage, indem er Chinas E-Government-Strategie einerseits zu globalen Entwicklungen in Beziehung setzt, andererseits im Kontext der sich verändernden Anreize untersucht, die politische Reformen in China in den vergangenen zwei Jahrzehnten ermöglicht haben. Es wird gezeigt, dass die Bemühungen der chinesischen Einparteienregierung, die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft zu digitalisieren, großes Potenzial dafür birgt, das Wesen des chinesischen Staates zu verändern. Allerdings stellen diese Veränderungen keinen Paradigmenwechsel dahingehend dar, wie China regiert wird. Der wichtigste Aspekt dieser Veränderungen ist, dass sie die Möglichkeit bieten, das oftmals als „Diktatoren-Dilemma“ bezeichnete Problem zu lösen: Menschen in nichtdemokratischen Regierungssystemen haben Angst davor, den Herrschenden gegenüber ihre Meinung auszudrücken, und entziehen so dem Staat eine wichtige Informationsgrundlage. Es wird gezeigt, dass die Entwicklung hochintegrierter E-Government-Plattformen, wie sie sich die Technokraten der Kommunistischen Partei Chinas vorstellen, bestehender institutioneller Logik folgt und dringende Probleme zu lösen vermag. So wird die Chance darauf erhöht, dass diese Plattformen nachhaltig eingeführt werden.
Staaten sind trotz aller Krisen auch in afrikanischen Ländern jene politischen Institutionengefüge, in deren Rahmen Zukunftsvorstellungen verhandelt und zur Grundlage politischer Entscheidungen werden. Der Artikel fasst Diskussionen um afrikanische Staatlichkeit zusammen. Er zeigt an den Beispielen staatlicher Grenzen einerseits, bürokratischen Handelns andererseits auf, welche Beharrlichkeit die Institution des Staates und seine konkreten Formen trotz aller Veränderungen entwickelt haben und wie stark sie Rahmenbedingungen für das Nachdenken über Zukunft und die Verständigung über zukünftige Gesellschaften bilden. Damit zeigt der Artikel auch, wie stark Zukunftsentwürfe von den Mitteln beeinflusst werden, die Gesellschaften sehen, sie durchzusetzen, und von den politischen Institutionen, die Hintergrund ihrer Sozialität bilden.