Die Einleitung dieses Themenheftes, das die seit dem Buch von Kenneth Pomeranz populäre Denkfigur der Great Divergence kritisch betrachtet, rekonstruiert die Debatten um die unterschiedliche ökonomische Performance Westeuropas und Ostasiens nach 1800 als zentrale Auseinandersetzung in der wirtschaftshistorischen Literatur und in allgemeineren globalhistorischen Interpretationen und fragt nach den Möglichkeiten, einen allzu engen Fokus auf den Vergleich zwischen China und England zu überwinden. Die Erweiterung der Debatte auf eine größere Zahl von Fällen bietet ebenso die Möglichkeit zur methodischen Weiterentwicklung wie die Einbeziehung einer Kulturgeschichte des ökonomischen Denkens, die vermeidet, dass in anachronistischer Weise Konzepte des 20. Jahrhunderts auf die Zeit vor 1800 projiziert werden. Damit entsteht, wie auch in den Beiträgen dieses Themenheftes argumentiert wird, die Gelegenheit zu einer reziproken Komparatistik mit einer Fallzahl größer als zwei, die überhaupt erst die Falsifizierbarkeit von Aussagen in diesem Vergleich möglich werden lässt.
The Great Divergence Revisited
Vol. 26 No. 3 (2016)
Herausgegeben von Matthias Middell und Philipp Robinson Rössner
Articles
Die Auffassung von einem Niedergang der spätmittelalterlichen Industrien in Ägypten und Syrien wurde kritisiert und es wurde vorgeschlagen, die beobachteten Entwicklungen als Transformation zu interpretieren. Dieser Beitrag schlägt einen Vergleich vor: Ägypten und Syrien deindustrialisierten sich als Teil einer zentralisierten, bürokratischen Wissensgesellschaft. Das kann mit guten Gründen als erfolgreiche Anpassung gewertet werden, doch die Levante verlor dabei ihre wirtschaftliche Vormachtstellung im industriellen Bereich. Die Juniorpartner in Europa, wohin die Produktion gleichsam ausgelagert wurde, übernahmen zunehmend die Führung. Diese Sichtweise maßt sich nicht an, die bestehenden Erklärungsansätze zu ersetzen, sondern will diese höchstens mit einen Beitrag zur Debatte ergänzen und dabei zum Nachdenken über unsere eigenen postindustriellen Gesellschaften einladen. Indem der Beitrag neben dem Europa-Ostasien-Vergleich auch auf den Vergleich zwischen Westeuropa und der islamisch geprägten Levante im späten Mittelalter eingeht, lässt sich neben relativ selbständigen Entwicklungspfaden vor allem auch die Interaktion und wechselseitige Prägung zwischen verschiedenen Wachstumsmodellen erkennen.
Der Autor untersucht die Geschichte ökonomischer Theorien über die Verursachung regionaler Differenzen und ihre Anwendung seit 1500 und fragt nach den Wegen, die solche Theorien genommen haben und nach dem Wechselverhältnis mit den unterschiedlichen Kontexten in Asien und Europa. Damit wird ein Rahmen entfaltet, der es erlaubt, die Dynamik des Verhältnisses von wirtschaftlichen Ideen und Akteuren sichtbar zu machen und weiter zurückzuschauen, wenn es um die Ursprünge der Great Divergence geht. Der Autor kritisiert den häufig sehr engen Blickwinkel, den Ökonomen und Wirtschaftshistoriker nutzen, um globale Unterschiede und wirtschaftliches Wachstum zu erklären. Dies führe dazu, dass die Divergence als eine Anomalie der Zeit ab 1750 gesehen wird. Dabei wird jedoch das Wie mit dem Warum verwechselt und eine unterkomplexe Erklärung der angenommenen Kausalitäten geliefert. Stattdessen plädiert der Beitrag dafür, die Verwurzelung der Unterschiede im Verhältnis der Menschen zur Wirtschaft und in ihrer Wahrnehmung der kosmologischen Ordnung zu sehen. Er sieht das beginnende 1. Jahrhundert als den Zeitpunkt, an dem sich in Europa die Weltwahrnehmung zu ändern begann und sich damit Ideen eines modernen Kapitalismus ausbreiten konnten. An die Stelle einer auf die Vergangenheit gerichteten Zeitwahrnehmung trat nun die Idee einer offenen und steuerbaren Zukunft, woraus Hume und Smith wirtschaftstheoretische Konsequenzen ableiteten. Ideen, die in China prominent waren, wie etwa das Stabilität und Nichteinmischung verheißende wu-wei, wurden in Europa durchaus rezipiert, aber in der bald entstehenden Praxis hochinterventionistischer Wirtschaftspolitiken bald völlig anders interpretiert. Dazu kam es offensichtlich in China aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht.
Der Autor erörtert die laufenden Debatten zur Great Divergence und die Schwierigkeiten, eine überzeugende komparatistische Strategie zu formulieren, die die einfache Opposition von zwei Fällen überwindet und das Problem der Falsifizierbarkeit adressiert. Weder sei es weiterführend, alles an einer europäischen Entwicklung zu messen, noch die englische Erfahrung mit der Gesamtheit Westeuropas in eins zu setzen. Um falsifizierbare Aussagen treffen zu können, gelte es etwa die Organisation des Fernhandels und seine Institutionalisierung in China und Europa zu vergleichen. Als zentrale Differenz arbeitet der Autor heraus, dass China ein einheitlicher Staat war, Europa dagegen politische Fragmentierung erlebte, die wiederum Krieg und den daraus folgenden Bedarf an Kapital und Arbeit in den Städten sowie eine dringendere Nachfrage nach Technologien nach sich zog. Im Unterschied zu Pomeranz sieht er hier die Ursprünge modernen Wirtschaftswachstums. Allerdings spielte für die britische Baumwollindustrie die Beziehungen nach Asien und Nordamerika eine wichtige Rolle, da die britische Industrie mit den niedrigen Arbeitskosten in Indien konkurrieren musste, woraus sich der rigorose Merkantilismus ergab, der positive, wenn auch unintendierte Effekte für das Wirtschaftswachstum hatte. Allerdings zeigt der Vergleich, dass andere Weltregionen vor anderen Problemen standen und mit anderen Kombinationen von Wissen und Problemlösungen reagierten. Dies führt zur Unterscheidung zwischen der Great Divergence als einem spezifischen Phänomen und einer allgemeinen Transformation, womit vermieden werden könne, in die Falle der Frage zu tappen, warum China nicht Großbritannien geworden sei.
Dieser Beitrag diskutiert den Einfluss der Great Divergence-Debatte auf die Forschungen zur Weltgeschichte, insbesondere bezüglich der Potentiale und Grenzen für eine Schärfung der globalen Perspektive in der Sozialforschung. Dabei stehen vier Argumente im Vordergrund. Als gegenwärtig bedeutsamste Debatte in der Welt- und Globalgeschichte hat die Diskussion um die Great Divergence die schon lange existierenden Dispute um Konvergenz / Divergenz neu ausgerichtet und klar erweitert, indem sie neue empirische Forschungsfelder erschlossen, neuen Ansätzen Raum verschafft und neue Daten und Wissensbestände verfügbar gemacht hat. Die Dynamiken der Debatte treiben sie über ihre eigenen Begriffe und Fragestellungen hinaus, indem allgemeinere Interpretationen des modernen Kapitalismus überprüft werden. Globale Forschung zu Prozessen der Integration und Hierarchiebildung im globalen Kapitalismus machen eine systemische Mehrebenenanalyse notwendig, die Vergleiche und Verflechtungsanalysen, strukturalistische top-down- und akteurszentrierte bottom-up Ansätze (inklusive der Untersuchung von Frontiers) einschließt. Dies führt zu epistemologischen Reflexionen über die Great Divergence-Debatte in ihrem aktuellen Zustand und über die Grenzen bzw. Herausforderungen einer weltgeschichtlichen Perspektive.