Nach 1989 wurden hohe Erwartungen in die Neubegründung des Ostseeraums als Geschichtsregion gesetzt. Den Bürgern der Anrainerstaaten sollten damit neue Möglichkeiten geboten werden, sich mit übernationalen politischen Prozessen und dem ungehinderten Austausch über alle Grenzen hinweg zu identifizieren. Die hier versammelten Beiträge würdigen die durch die EU-Erweiterung erzielten Ergebnisse, ziehen jedoch hinsichtlich der anvisierten Etablierung einer „Ostseeregion“ eine eher ernüchternde Bilanz. Teils im Vergleich mit dem Mittelmeerraum werden die Strukturpolitik für Inseln, die Bemühungen um Demokratisierung der transnationalen Politik, die intellektuellen Anstrengungen zur Verankerung der Großregion sowie deren Wahrnehmung durch Migranten untersucht. Dabei zeigt sich, dass nationale Interessen und Erwartungshorizonte sowie ältere Raumvorstellungen der Etablierung einer „Ostseeregion“ bisher entgegenstehen.
The Baltic Sea: A Space of Changing Expectations
Vol. 26 No. 5 (2016)
Herausgegeben von Rolf Petri
Articles
In Ostsee und Mittelmeer spielen Inseln eine wichtige Rolle bei der Umsetzung europäischer makroregionaler Strategien. Der Aufsatz untersucht, wie die EU an die Probleme von Inseln herangeht. Bis zu den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) wurden sie im Struktur- und regionalpolitischen Rahmen kaum beachtet. Seit die Insellage als gesondertes Problem anerkannt wird, bemisst die EU die „dauerhaften strukturellen Nachteile“ von Inseln fast ausschließlich an ihrer Entfernung vom nationalen Festland. Demgegenüber haben die Island Studies der letzten Jahrzehnte unter Verweis auf die die Vielseitigkeit der Außenverflechtung von Inseln eine stärker Insel- und Netzwerkzentrierte Sichtweise gefordert. Wie die Autorin unterstreicht, schmälert das Beharren der EU auf einem Festlandzentrierten Ansatz das Potential, das durch den stärkeren Ausbau von Inselnetzwerken zur Geltung gebracht werden könnte.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs richteten sich viele Bemühungen darauf, die Ostseeregion als einheitlich gestaltete und gelebte Region zu etablieren. Politische und akademische Akteure arbeiteten gezielt und nicht ohne Erfolg an der Verbreitung grenzüberwindender Kategorien. Dies geschah nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in dem Sinne, dass sich grenzübergreifende Netzwerke herausgebildet haben, in denen der Transfer von Ideen bezüglich der „Ostseeregion“ reibungslos funktioniert. Die nähere Untersuchung dieser und anderer im 20. Jh. gegründeter Netzwerke zeigt allerdings, dass sie oft nicht die ganze Region umspannen, über die sie reden und die sie erreichen möchten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Grenzen der Übertragbarkeit von Ideen über die „Ostseeregion“ und stellt sich der Herausforderung, diese Grenzen zu erklären und zu verstehen.
Der 1991 gegründeten Ostseeparlamentarierkonferenz (BSPC) wurde eine wichtige Rolle für die Demokratisierung transnationaler Entscheidungsprozesse im Ostseeraum zugeschrieben. Erwartet wurde, dass sie zur Herausbildung einer regionalen Zivilgesellschaft und politischen Öffentlichkeit beitragen könne. Der Autor untersucht die Arbeit der BSPC in Hinblick auf erfüllte und unerfüllte Erwartungen. Die Theorien der transnationalen Demokratie fanden in diesem Fall keine Bestätigung, da die BSCP-Mitglieder die Interessen ihrer nationalen Wahlkreise in den Vordergrund stellten. Auch in dieser Institution konnte demnach das nationalstaatliche Paradigma nicht zugunsten einer politisch integrierten „Ostseeregion“ überwunden werden. Angesichts der Spannungen mit dem mittlerweile einzigen Nicht-EU-Mitglied der BSPC, Russland, kann die Parlamentarierkonferenz jedoch im Rahmen herkömmlicher zwischenstaatlicher Kooperation zu Frieden und Sicherheit in der Region beitragen.
Vor dem Hintergrund erneut wachsender Migrationsströme innerhalb der EU wertet der Autor Interviews aus, die er in Schweden mit Migranten aus Griechenland und Lettland geführt hat. Dabei geht es ihm darum, zu verstehen, wie sich die EU-Bürgerschaft auf die Identifikation mit nationalen, regionalen und europäischen Räumen auswirkt. Es zeigt sich, dass die nationale die wichtigste Ebene der Selbstidentifikation bleibt. „Europäisch“ zu sein wird ebenfalls als wichtig erachtet, zumal es im Immigrationsland einen Zugang zu Rechten garantiert, der Dritten verwehrt bleibt. Im Fall lettischer Migranten wird eine regionale Zugehörigkeit zum Baltikum und Osteuropa definiert, die von Skandinavien und Westeuropa abgegrenzt bleibt. Die griechischen Befragten sehen sich mehr zum Balkan denn zum Mittelmeer gehörig, von dessen nichteuropäischen Anrainern sie sich distanzieren möchten. Als Einheiten gedachte Mittelmeer- und Ostseeregionen spielen für die Erwartungen der Migranten kaum eine Rolle.
Forum
Über Jahrhunderte hinweg spielten Inseln als „natürliche Brücken“ eine entscheidende Rolle bei der Verbindung von Ozeanen und Weltregionen. Manche nahmen eine „zentrale“, andere eine mehr „periphere“ Rolle für Schifffahrtswege und Handelsnetzwerke, die Kontrolle der Meere und die Besiedlung von Kontinenten ein. Die Konstruktion und Integration der atlantischen Welt nahm seit dem 15. Jahrhundert ihren Ausgang von den Makaronesischen Inseln, die den Mittelmeerraum mit dem Atlantischen Becken verbanden. Auf den Kanaren, Madeira, den Azoren und Kapverdischen Inseln, aber auch auf São Tomé und Príncipe wurden traditionell mediterrane, soziale und ökonomische Muster an neue geographische und historische Kontexte angepasst. Dabei bildeten sich Prototypen der nachfolgenden Kolonisierung Amerikas heraus. Der Beitrag betrachtet die frühneuzeitliche ostatlantische Welt als frühen Schauplatz der europäischen „Moderne.“
Der Aufsatz plädiert dafür, die übliche Kombination von Ansätzen aus der Öffentlichen Verwaltungslehre und den Internationalen Beziehungen in der Untersuchung von Internationalen Organisationen (IO) um eine globale und eine historische Perspektive zu erweitern, um IOs als sich entwickelnde und entfaltende Bürokratien zu erfassen. Um diese Geschichte der IOs als Bürokratien zu erfassen, schlage ich vor, die intellektuelle Geschichte der IOs zu untersuchen, ihre vielfältigen und alternativen räumlichen Horizonte als Forschungskategorien zu benutzen und dadurch neue (globale) Narrative und Periodisierungen der IO-Entwicklung jenseits der konventionellen Historiographie anzustreben.