Veterans and War Victims in Eastern Europe during the 20th Century. A Comparison
Vol. 20 No. 5 (2010)
Herausgegeben von Katrin Boeckh und Natali Stegmann
Articles
Dieser Aufsatz untersucht den Schnittpunkt zwischen dem entstehenden und sich wandelnden sowjetischen Wohlfahrtsstaat einerseits, und gesetzlicher Privilegierung von ehemaligen Soldaten des Zweiten Weltkrieges andererseits. Es wird gezeigt, dass – im Kontrast zu anderen Gesellschaften wie den USA oder Australien – kein kausaler Zusammenhang zwischen Veteranenversorgung und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung besteht. Wohlfahrtspfl ege für die breite Bevölkerung und Veteranenversorgung standen vielmehr in Konkurrenz zueinander. Der Aufsatz beginnt mit einem Überblick über die sich wandelnde Terminologie, die im sowjetischen Kontext die Kriegsveteranen beschreibt, sowie die mit diesen Konzepten verknüpften, sich ebenfalls wandelnden gesetzlichen Bestimmungen. Der zweite Teil skizziert sodann die Geschichte des sowjetischen Wohlfahrtsstaates, und zeigt auf, dass dieser nicht von der Veteranenversorgung angetrieben wurde. Erst in den späten 70er Jahren konvergierten die getrennten Entwicklungslinien der Veteranenversorgung und des Wohlfahrtsstaates. Seit 1978 können wir von Kriegsveteranen als einer „avant garde“ in der Altenversorgung sprechen.
Die Sowjetunion ging aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ als Sieger und zweite Supermacht neben den USA hervor. Doch der Preis für diesen Triumph war schrecklich hoch. Der Krieg kostete schätzungsweise 27 Mio. Menschen das Leben, Millionen Soldaten kehrten verstümmelt, blind oder chronisch krank von der Front zurück. Aufgrund rigider Anerkennungsverfahren wurden aber nicht alle dieser Kriegsopfer in die Statusgruppe der staatlich anerkannten Kriegsinvaliden aufgenommen, die Anspruch auf Rentenzahlung und andere Privilegien geltend machen konnten. Aus staatlicher Sicht war vor allem die schnelle Wiedereingliederung ins Arbeitsleben die beste Therapie gegen kriegsbedingte körperliche Leiden und wurde deshalb zum Hauptinstrument sowjetischer Sozialpolitik. Es fehlte allerdings an begleitenden Umschulungs- oder Ausbildungsprogrammen, medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen und einer ausreichenden Zahl funktionstüchtiger Prothesen. Während die staatliche Propaganda „umfassende Fürsorge“ für die Kriegsversehrten in Aussicht stellte, erlebten sich diese selbst als „arme Sieger“.
Nachdem Polen 1918 seine staatliche Unabhängigkeit wiedererlangte, folgte eine Phase paralleler Nationsbildung und staatlicher Konsolidierung. Die Diskussion, ob und wie der Staat sich der Veteranen und Invaliden des Ersten Weltkriegs annehmen sollte, hatte großen Einfl uss auf diese Prozesse. Hier manifestierten sich Fragen zur Nationalität – wer gehörte zur polnischen Nation und wer nicht – und zum nationalen kollektiven Gedächtnis – wie sollte man die polnische Teilnahme am Ersten Weltkrieg bewerten und gedenken. Konfrontiert mit den Forderungen von Veteranen und Kriegsopfern, entschied sich der polnische Staat für ein wohlfahrtstaatliches Modell mit starker staatlicher Kontrolle. Der sich entwickelnde polnische Wohlfahrtsstaat war stark beeinfl usst von strukturellen Kontinuitäten aus den Teilungsmächten Deutschland und Österreich, die den speziellen polnischen Bedingungen angepasst wurden. Obwohl die Umsetzung des Wohlfahrststaates in der Zwischenkriegszeit weniger erfolgreich war, als die Gesetzgebung es vermuten lassen könnte, bereitete die Diskussion zur Veteranenfürsorge in vielerlei Hinsicht das Fundament für das polnische Verständnis staatlicher Wohlfahrt im 20. Jahrhundert.
Die Tschechoslowakei wurde am Ende des Ersten Weltkriegs gegründet. Zuvor hatten Tschechen und Slowaken in den Verbänden der Habsburgermonarchie und zu einem kleineren Teil an der Seite der russischen Armee gekämpft. Wie im polnischen Falle hatten sich also die Angehörigen der neu oder wieder gegründeten Nation auf zwei Seiten der Front gegenüber gestanden. Dies bestimmte wesentlich die Politik sowohl den Veteranen als auch den Kriegsgeschädigten gegenüber. Daneben waren aber auch andere Bestimmungsfaktoren maßgeblich. Hierzu zählte in der Sozialpolitik die Tradition der Habsburgermonarchie, die in einer spezifi schen Weise mit der demokratisch-humanistischen Rhetorik der Republik verknüpfte wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren diese Prämissen wesentliche Modifi kationen. Die entsprechenden Prozesse skizziert der Artikel vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1950er Jahre hinein.
Das Sozialfürsorgesystem im sozialistischen Jugoslawien war eng an die herrschende Staatsideologie geknüpft. Ein aus dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien abgeleitetes Anrecht auf staatliche Fürsorge und Unterstützung wurde nur denjenigen bzw. deren Hinterbliebenen gewährt, die auf der „richtigen Seite“ versehrt oder getötet worden waren, jenen also, die den jugoslawischen Volksbefreiungskrieg unterstützt oder ihm wenigstens nicht feindlich gegenübergestanden hatten. Der Beitrag diskutiert die Rolle des jugoslawischen Veteranenbundes (Savez Boraca u Narodnooslobodilačkom ratu, SBNOR) in der Konturierung dieses Sozialfürsorgediskurses, dies insbesondere in Bezug auf seine aus ehemaligen Partisanen und Unterstützern der Volksbefreiungsbewegung bestehenden Verbandsmitglieder. Vor allem ein schwieriger Balanceakt steht dabei im Vordergrund – die Frage der Anerkennung überlebender ehemaliger Deportierter und Internierter als „Teilnehmer des Volksbefreiungskrieges“, denn die betreff enden Diskussionen zeigen, das der jugoslawische Veteranenbund nicht isoliert von internationalen Diskursen agierte. Vielmehr soll im Beitrag akzentuiert werden, auf welchen Wegen im jugoslawischen Veteranenbund versucht wurde, transnational kommuniziertes Wissen in jugoslawische Praktiken zu überführen.
Im Zentrum dieses Beitrags stehen die Kontroversen um eine angemessene Versorgung von Veteranen und Kriegsopfern im Nachkriegskosovo. Der institutionalisierte Umgang mit Veteranen in der ehemals serbischen Provinz Kosovo, die von 1999–2008 im Rahmen eines UN-Protektorats verwaltet wurde und am 17. Februar 2008 ihre Unabhängigkeit erklärte, war geprägt von den diametral entgegengesetzten Vorstellungen der internationalen Verwaltung und der albanischen Mehrheitsbevölkerung in Bezug auf den Charakter des entstehenden Staates und damit einhergehend, die gesellschaftliche Rolle der Veteranen. Gegenstand der Untersuchung sind die Ambivalenzen, die sich aus den beiden Staatskonzeptionen für die Veteranen ergeben: dem Aufbau eines national defi nierten, befreiten Kosovo – in dem ehemaligen Befreiungskämpfern eine privilegierte Rolle zukommt – auf der einen Seite, und der Errichtung einer multi-ethnischen Gesellschaft im Rahmen einer internationalen Friedensmission, auf der anderen.