The Invention of the European
Vol. 25 No. 5-6 (2015)
Herausgegeben von Matthias Middell
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Herausgegeben von Matthias Middell
Erst seit relativ kurzer Zeit, so die These dieses Beitrags, sprechen Menschen über sich und andere als „Europäer“. Bis in die Frühe Neuzeit hinein blieb dieser Begriff zur Selbst- und Fremdbeschreibung weitgehend unbedeutend, was angesichts seiner heutigen Allgegenwärtigkeit verwundern mag. Der Artikel geht zunächst den Schlüsselmomenten nach, in denen der Begriff an Bedeutung gewann, und er schlüsselt seine Kerndimensionen auf. Danach diskutiert er verschiedene Konzepte, um der Geschichte des „Europäers“ und der „Europäerin“ angemessen nachgehen zu können. Schließlich werden mit Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert einige Arbeitshypothesen zur Geschichte des „Homo Europaeus“ vorgestellt.
Als napoleonische Truppen 80 in Lissabon einmarschierten, segelte der portugiesische Monarch João (VI) samt 5.000 Personen im Gefolge gen Brasilien. Rio de Janeiro wurde zum Zentrum des portugiesischen Reiches, es kam zu einer „Umkehrung“ des Verhältnisses von Mutterland und Kolonie. Dieser Aufsatz beleuchtet zunächst die geopolitischen und kulturellen Voraussetzungen dafür, dass die portugiesische politische Elite mit relativer Leichtigkeit ihren Sitz in Europa zugunsten einer neuen Hauptstadt in den Tropen verlassen konnte. Danach werden auf der Basis von Polizeidokumenten jene Herrschaftspraktiken analysiert, die aus der Kolonialstadt eine imperiale Hauptstadt machen sollten. Hierbei fungierten europäische Verhältnisse als Vorbild. Deutlich wird aber auch, dass die in Europa geltenden Standards – je nach politischer Lage und ökonomischen Interessen – stark an die Begebenheiten in Brasilien angepasst werden konnten.
Mit Beginn ihrer kolonialen Expansion nach Irland, Nordamerika und schließlich nach Südasien ab dem . Jahrhundert entwickelten die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Klassen Englands ein dezidiertes Verständnis von der eigenen kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit. Im Wesentlichen bestand die Erzeugung dieses Überlegenheitsgefühls im sogenannten „Othering“, also der dezidierten Definition anderer Gesellschaften und Kulturen als rückständig, degeneriert und daher unterlegen. In Britisch-Indien sollte sich dieses Gefühl, und letztlich die Überzeugung einer europäischen Superiorität, an drei Punkten zeigen. Zum einen über die Konstruktion des „zeitlosen indischen Dorfes“, das pars pro toto für die Statik des Orients stand. Zum zweiten über der Hierarchisierung der „indischen Gesellschaft“ aufgrund der brahmanisch-britischen Erfindung des „Kastensystems“, das ebenfalls für die Unveränderlichkeit, aber auch Rückständigkeit der homogenisierten und essentialisierten indischen Gesellschaften stand. Und zum dritten mittels der behaupteten Überlegenheit europäischen Medizinwissens, das nur durch administrative Regulierung durchgesetzt werden konnte. Im kolonialen Kontext Britisch-Indiens ist der homo europaeus geradezu erfunden und letztlich erfolgreich konstruiert worden – mit nachhaltiger Wirkung.
Mit der „Exit Revolution“ des 9. Jahrhunderts verschob sich das dominante Kontrollanliegen europäisch-atlantischer Migrationsregime vom Abwanderungsverbot zur Zutrittsregulierung. Dabei avancierten ethnisch-kulturelle bzw. räumlich-rassische Metaphern sozialer Wünschbarkeit mit der Zeit zu eigenbedeutsamen Selektionsinstrumenten. Unter diesen wiederum illustriert die Kategorie „Europäer“ den Stellenwert politisch verfasster Räume für Design und Applikation entsprechender Kollektivzuschreibungen: Erst nach der Institutionalisierung einer Europäischen Pass- und Rechteunion trat der Homo Europaeus in Konkurrenz zu älteren, von imperial- oder nationalstaatlicher (Binnen-) Differenzierung instruierten Hierarchien. Seither sind die In-/Exklusionschiffren „weiß“ und „Europa“ zu einem wanderungspolitischen Kulturogem konvergiert – und erneut von einem bio-areal indifferenten Paradigma individueller wirtschaftlich-sozialer „Fitness“ überholt worden.
Der Artikel vergleicht die Position, die „Europäer“ im öffentlichen Diskurs Australiens in den 920er und in den 90er Jahren einnahmen und stützt sich dabei auf die Auswertung von Wochenmagazinen wie The Bulletin, Smith’s Weekly, The Australian Worker und Nation. Die gewählten Untersuchungszeiträume sind für die Formierung einer australischen Identität besonders relevant und markieren Stufen in einem Prozess der Auseinandersetzung mit der europäischen Abstammung der weißen Australier und mit der Rolle, die den Aborigines im australischen Nationsbildungsprozess spielen sollen. Es wird argumentiert, dass das Label Europäer eine spezifische Position in der kulturellen Logik australischer kollektiver Identität hat und sowohl der Betonung von Zugehörigkeit als auch der Abgrenzung dienen kann.
Der Artikel analysiert chinesische Europabilder während des . Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts. Hierbei geht der Autor für den ersten Betrachtungszeitraum vor allem auf Meinungsbilder innerhalb christlicher Kreise ein. Für den zweiten Betrachtungszeitraum, insbesondere die 920er Jahre, werden vornehmlich Stimmen aus dem Lager entschiedener Modernisierer untersucht. Diese werden wiederum mit den Positionen chinesischer Denker verglichen, welche das Ziel einer kulturspezifischen, nachhaltigen Form der chinesischen Moderne vertraten. Unter anderem ergibt der diachrone Vergleich, dass im . Jahrhundert – selbst unter chinesischen Christen – positive Europabilder nach konfuzianischen Maßstäben bemessen waren. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Relevanz des Konfuzianismus im Hinblick auf Europa nicht mehr vorausgesetzt, sondern vielmehr kritisch debattiert.
Der Aufsatz untersucht, auf welche Weise Ärzte im kolonialen Kontext den „Europäer“ dachten. Er nimmt dafür zeitgenössische Debatten über die Disposition bestimmter „Bevölkerungsgruppen“ für Krankheiten wie Malaria und Schlafkrankheit in den Blick sowie die Praxis der Malariabekämpfung in der Kolonie Deutsch-Ostafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der „Europäer“ und „Farbige“ unterschiedlich behandelt wurden. Es wird gezeigt, wie „Europäer“ und „Farbige“ als Phänomene konstruiert wurden und immer wieder argumentativ und praktisch voneinander abgegrenzt werden mussten. Am Beispiel der dabei produzierten „Grenzfälle“ der „Goanesen“ und „Buren“ arbeite ich heraus, dass in der Idee des „Europäers“ das Konzept biologisch definierbarer „Rassen“ auch für Ärzte untrennbar mit Vorstellungen von „Kultur“ sowie mit Klasse verknüpft war.
Akademische und Alltagsdiskurse über „den Europäer“ haben selten einen empirischen Gehalt. Die Lebenswissenschaften bieten eine wichtige Ausnahme zu dieser Regel. Seit dem Beginn des 8. Jahrhunderts bis heute betonen Wissenschaftler, dass Europäer sich in biologischer Hinsicht von anderen Menschen unterscheiden. Hinzu kommt, dass die Überzeugung von einem biologischen Kern des Europäerseins immer wieder in Alltagsdiskurse eindringt. Neuere historische Arbeiten haben die Bedeutung der Rassenanthropologie für die Herausbildung nationaler Identitäten und die schrecklichen politischen Folgen, die sich daraus ergeben haben, herausgestellt. Indes geht die Bedeutung der Rassenanthropologie weit über den Nationalismus hinaus. Ich untersuche in diesem Beitrag die Rolle der Rassenanthropologie und der Rassenklassifikationen für die europäische Identitätskonstruktion, wobei ich mich vor allem auf die Kolonialmedizin des frühen 20. Jahrhunderts konzentriere. „Weiße“ und „Europäer“ waren keine austauschbaren Begriffe in der biomedizinischen Wissensproduktion. Das heißt nicht, dass sie nicht gelegentlich verwechselt wurden. Aber sie transportierten verschiedene Bedeutungen. „Weiße“ scheinen hauptsächlich biologische Konnotationen gehabt zu haben, während sowohl eine Beachtung von Natur als auch von Kultur notwendig gewesen ist, um das Europäische des „Europäers“ zu erfassen.
Ein Grund für die kontroverse Diskussion geistiger Eigentumsrechte im Kontext existierender und geplanter Handelsabkommen ist das diesen Rechten zugrunde liegende Verständnis von Autor- und Urheberschaft. Diese internationalen Abkommen reden einer exklusiven Urheberschaft das Wort, die individuelle Kreativität als treibende Kraft für technische oder kulturelle Neuerungen sieht und entsprechend starke Ausschlussrechte gegenüber Dritten gewährt. Der Aufsatz beschäftigt sich mit den Gründen für dieses Rechtsverständnis. Beginnend mit den ersten modernen Urheberrechtsgesetzen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland wird argumentiert, dass diese im Verlauf des 8. Jahrhunderts entwickelte Rechtsfigur in aufklärerischen Denkweisen und romantischen Vorstellungen von Schöpfertum und Individualität und damit in einem zutiefst europäischem Verständnis von Individuum und Gesellschaft wurzelte. Im Unterschied zu heutigen Abkommen scheiterte zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings noch der Versuch, diese Rechtsfigur als universalen und weltweit gültigen Standard zu implementieren. Ausschlaggebend hierfür war der Widerstand nord- und südamerikanischer Staaten, die diesem Autorverständnis eigene wirtschaftliche Interessen entgegensetzten und es damit als spezifisch europäische Rechtsfigur auf die Ränge verwiesen.
Heute wird vor allem von internationalen Organisationen erwartet, dass sie die mit der „Globalisierung“ verbundenen Herausforderungen und Probleme angehen. In dem vorliegenden Aufsatz beabsichtige ich eine Übersicht zu verschiedenen Themenbereichen zu liefern, welche die Frage zu beantworten helfen soll, inwieweit ein konstruierter „Europäer“ den Grundentwurf für die Konzeption dieser Organisationen darstellte. Zunächst definiere ich den Begriff Homo Europaeus, welcher den vorgestellten Europäer widerspiegelt und in verschiedenen Bereichen und in unterschiedlichen historischen Perioden konstruiert wurde. Anschließend formuliere ich meine drei Hauptfragen, gefolgt von einer kurzen Übersicht zur Historiographie internationaler Organisationen. Ein Aufriss der Geschichte internationaler Organisationen soll diese Einrichtungen in der Globalgeschichte verorten. Abschließend behandle ich einige Eigenschaften von IO: die Dimension des Völkerrechtes, der Bürokratie und Standardisierung sowie die Politikbereiche Menschenrechte und Gesundheitspolitik.
Dieser Beitrag untersucht die Konstitution des Homo Europaeus durch die Wissensgenerierung im Feld Ernährung und Gesundheit. Hierzu fokussieren wir die konkreten Arbeitsweisen, Kategorisierungen und Standardisierungen in der biomedizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Forschung sowie deren Differenzproduktion. Wir folgen den wissenschaftlichen Verfahren, durch die das „Europäische“ als performative Kategorie in Gesundheitswissenschaft und Präventionspolitik hervorgebracht, kritisiert, hinterfragt und erneuert wird. Die demografisch-epidemiologische Erhebung des Europäischen wird dabei weniger als Realität abbildend sondern als Realität hervorbringend untersucht – insbesondere im Hinblick auf ihr Neu-Konfigurieren des Verständnisses von Bürgerschaft. Hierfür spielen technokratische Praktiken der Risikoabschätzung sowie neue Formen der Arbeit und Partizipation an der Wissensbildung eine zentrale Rolle. In den Verfahren der Wissensproduktion selbst konstituiert sich der Homo Europaeus nicht zuletzt als Datenproduzent und -konsument.